Zwei Monate Abgeordnete
Werde ich nach vier Jahren alle 622 Abgeordnete des 17. Deutschen Bundestages mit Namen kennen? Diese Frage kam mir als wir bei der Bundeskanzlerinnenwahl tatsächlich (fast) alle anwesend waren. Bei der Fraktionssitzung war es schon übersichtlicher und dennoch – aus meiner Sicht – recht voll. Dort sitzen mehr SPD-Abgeordnete als die Hamburgische Bürgerschaft Mitglieder hat. Aber diejenigen, die schon länger dabei sind, sprechen von einem dramatisch ausgedünnten Bild. Und die Zahlen belegen dies ja auch…
Der Wahlabend und der Morgen danach
Am Wahlabend schien klar zu sein: Wir haben nicht nur ein dramatisch schlechtes Ergebnis erzielt, sondern auch in Hamburg drei Wahlkreise verloren. Die CDU hat uns in Hamburg erstmalig überholt, um einen halben Prozentpunkt. Aus meiner Sicht gab es keine Hoffnung mehr auf einen vierten Kandidaten und somit meinen Listenplatz. Am nächsten Morgen winkte mir meine Nachbarin durch das Fenster zu und applaudierte. Ich fragte meinen Mann, ob wir wohl irgendetwas nicht mitbekommen hätten. Er schaute im Internet nach: Nein, das Ergebnis hatte sich nicht mehr verändert. Und doch stand ich offensichtlich seit vier Uhr morgens auf den Seiten des Bundestages. Das komplizierte Auszählverfahren muss man vielleicht nicht verstehen, am Ende haben wir Sozis in Hamburg doch noch ein viertes Mandat für den Bundestag erhalten.
Auch wenn es wenige Wochen später kaum noch nachvollziehbar erscheint – meine Freude hielt sich sehr stark in Grenzen. Was da auf mich zurollte war eine Welle kaum geplanten Ausmaßes. Der eigene Wahlkreis – nicht gerade ein kleiner – gehörte zu den verlorenen. Ich hatte kaum damit gerechnet, überhaupt in den Bundestag zu kommen – auch wenn Henning Voscherau mir noch wenige Tage zuvor das Ergebnis quasi vorausgesagt hatte. Aber das dann auch gleich so viele Wahlkreise ohne Abgeordnete dastünden – ein einziger Alptraum.
Die ersten Schritte als neue Abgeordnete
Inzwischen hat mich dann doch die Euphorie, nun das bestmögliche aus dem diesem Ergebnis machen zu wollen, eingeholt. In Berlin, wo es wohl Tradition ist, dass die neuen Abgeordneten mehrere Wochen um ein Büro betteln müssen, habe ich langsam die unterirdischen Wege zwischen all den Häusern kennengelernt. Meine allererste Fraktionssitzung mit einem launischen und gleichzeitig sehr sympathischen Peter Struck wird mir sicher unvergessen bleiben.
Und dann die Flut an Glückwunschschreiben. Sicher, viele haben einfach nur an alle Mitglieder des Bundestages geschrieben und man antwortet höflich und sortiert schon einmal diejenigen heraus, die mit den eigenen Schwerpunkten zu tun haben. Darunter waren aber auch mehrere Minister aus der Türkei, die gratulieren und eine gute Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern wünschen.
Die allerersten Anfragen – das fing schon vor der Wahl an – beziehen sich auf mögliche Berlinfahrten. Das scheint sehr beliebt zu sein. Schulklassen, Gewinner bei Stadtteilfesten, Freunde und Bekannte. Wie gut, dass Hamburg und Berlin recht nah beieinander liegen.
Natürlich weiß ich auch wie groß meine eigene Familie ist – auch die „Anteile“ in den USA und in der Türkei. Ich weiß aber schon gar nicht mehr, wie viele Mails und Facebook Einträge ich in den letzten Wochen beantwortet habe. Gern hätte ich mal eine Karte zurückgeschrieben, aber es dauert ja, bis man in der Lage ist, überhaupt einen eigenen gültigen Briefkopf zu besitzen…
Mitarbeiten am Aufbruch
Nun sind wieder einige Wochen vergangen. In Hamburg haben wir einen neuen Landes- und für die Partei in Dresden einen neuen Bundesvorsitzenden gewählt. Der Wind des Zusammenreißens und des neuen Aufbruchs ist spürbar. Hilfreich ist dabei natürlich auch der Zulauf bei allen Veranstaltungen, ob Frühschoppen oder Mitgliederversammlungen. Die Mitglieder – darunter viele, die sonst nicht kommen – strömen geradezu herbei. Nicht nur um deutlich ihre Meinung zu sagen, sondern auch „um nicht immer nur von der Couch aus zu meckern, sondern auch mal wieder selbst mit anzupacken“, wie mir ein Genosse sagt. Das ist klasse. Nur so kann es gehen.