Sigmar Gabriel zu Gast in Hamburg – Rede zur Sicherheitspolitik
Am 12. Juli war der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel zu Gast an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg. Im Thomas-Ellwein-Saal der Bundeswehr-Uni hielt er einen Vortrag zur “Sicherheitspolitik für das 21. Jahrhundert”.
Eine sich veränderte Bedrohungslage nach dem Ende des Kalten Krieges, ein breiteres Aufgabenspektrum mit einer angepassten Organisation der Armee, die Weiterentwicklung politischer Bündnisse und die technische Entwicklung würden das neue Erscheinungsbild der Bundeswehr im 21. Jahrhundert nachhaltig prägen, so Gabriel.
Der SPD-Vorsitzende unterstützte auch die Einrichtung der Bundeswehr-Universitäten: “Ich bin mir sicher, dass die Bedeutung der Bundeswehrhochschulen als universitäre Lehreinrichtung beim Umbau zur Berufsarmee auch weiter an Bedeutung zunehmen wird.” – und erteilte somit allen Sparplänen oder drohenden Schließungen eine Absage.
Lesen Sie nachstehend die Rede von Sigmar Gabriel, es lohnt sich, wie ich Ihnen als Zuhörer versichern kann:
Rede von Sigmar Gabriel “Sicherheitspolitik für das 21. Jahrhundert” vom 12.07.2011:
– Es gilt das gesprochene Wort –
Ich freue mich sehr, hier an dieser Universität vor Ihnen sprechen zu können. Dass Ihre Hochschule den Namen eines hoch angesehenen Sozialdemokraten trägt, freut mich als Vorsitzender der SPD natürlich außerordentlich.
Aber Helmut Schmidt war und ist auch ein über alle Parteigrenzen hinweg hochgeschätzter Staatsmann, Europäer und Weltbürger. Vor allem aber ist er ein echter Hamburger. Als ehemaliger Verteidigungsminister war er darüber hinaus Mitgestalter einer Tradition sozialdemokratischer Verteidigungspolitik, die stets eine verantwortungsvolle und auf gesellschaftliche Verankerung bedachte Führung der Streitkräfte in den Mittelpunkt des Handelns setzte. Die Gründung von Hochschulen der Bundeswehr durch Helmut Schmidt – als Bundesverteidigungsminister im Jahr 1972 – war daher eine logische Konsequenz. Es ging um mündige und informierte Bürgerinnen und Bürger, Staatsbürger in Uniform, die den Dienst an der Waffe und ihre gesellschaftliche Verantwortung als eine gemeinsame Pflicht erkennen und danach handeln sollten. Die schrecklichen Erfahrungen der deutschen Geschichte sollten sich nie mehr wiederholen können.
Für das Prinzip der Inneren Führung und der Idee des Staatsbürgers in Uniform, auf das die Bundeswehr im Vergleich zu anderen Armeen zu Recht stolz ist, bedeutete der dazu gewonnene Bildungsauftrag der Bundeswehr ein wesentliches und weiter wachsendes Qualitätsmerkmal für unsere Armee. Ich bin mir sicher, dass die Bedeutung der Bundeswehrhochschulen als universitäre Lehreinrichtung beim Umbau zur Berufsarmee auch weiter an Bedeutung zunehmen wird. Das Potenzial an Bildungsangeboten innerhalb der Bundeswehr war immer schon groß und hat sich inzwischen weiter diversifiziert. Vom nachgeholten Hauptschulabschluss über den Gesellen bis zum Meister, vom Bachelor bis zum Vollstudium verfügt die Bundeswehr seit Jahren über viele Möglichkeiten, ihre Attraktivität darzustellen und jungen Frauen und Männern anzubieten. Im Wettbewerb um das berufliche Engagement junger Menschen wird die Bundeswehr als Berufsarmee aber nur dann bestehen können, wenn sie ihren Bildungsauftrag neu definiert und ihn an zentraler Stelle in das Programm zur Steigerung ihrer Attraktivität aufnimmt.
Helmut Schmidt hat vor 40 Jahre eine Kommission unter dem bedeutenden Politik- und Verwaltungswissenschaftler Thomas Ellwein eingesetzt – den Namensgeber dieses Saales -, der eine umfassende Evaluierung der Bildungslandschaft vorgenommen hat. Das brauchen wir jetzt wieder! Ich würde mir wünschen, dass im jetzigen Reformvorhaben der Bildungsauftrag der Bundeswehr umfassend und an zentraler Stelle mit bedacht wird. Die Bundeswehr muss eine Armee der dauerhaften Qualifizierung und fachlichen Weiterbildung werden. Zum einen, weil sich ihr Auftrag in Zukunft weiter verändern wird – dazu komme ich noch! Zum anderen, damit sie im Wettbewerb um qualifizierten Nachwuchs mit anderen Arbeitgebern mithalten kann.
Ich kam Ende der Siebzigerjahre zur Bundeswehr und habe mich damals für zwei Jahre verpflichtet. Heute früh war ich bei der Marine in Kiel und im letzten Herbst beim Heer an Standorten in Bayern, u. a. in Hammelburg beim Ausbildungsstandort für Auslandseinsätze. Und ich muss aus eigener Erfahrung feststellen, dass sich unsere Armee in diesen 30 Jahren stark verändert hat. Die Bundeswehr hat den neuen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen und damit auch den neuen Anforderungen an die verschiedenen Fähigkeiten umfassend Rechnung getragen. Vielleicht ist der Stubenappell noch eines der wenigen Relikte von damals. Aber ich vermute, dass nun auch dieses Relikt – zusammen mit der Wehrpflicht – ausgesetzt wird. Doch im Ernst: Eine sich veränderte Bedrohungslage nach dem Ende des Kalten Krieges, ein breiteres Aufgabenspektrum mit einer angepassten Organisation der Armee, die Weiterentwicklung politischer Bündnisse und nicht zuletzt die technische Entwicklung prägen das neue Erscheinungsbild der Bundeswehr nachhaltig.
Es scheint, dass in den Streitkräften demokratischer Nationen die einzige feste Größe der Imperativ zur steten Erneuerung ist. Sicherheitspolitische, aber eben auch gesellschaftspolitische Entwicklungen verlangen nach neuen Antworten in der Ausrichtung einer Armee. Dabei geht es um die militärische Leistungsfähigkeit und zugleich um die gesellschaftliche Akzeptanz der Streitkräfte. Für die Bundeswehr hat der damalige Verteidigungsminister Peter Struck mit dieser Transformation einen Prozess eingeleitet, der ein kontinuierliches Nachsteuern auf sicherheitspolitische Veränderungen ermöglicht. Sie werden als künftige militärische Führungskräfte in Ihrer aktiven Zeit die Aufgabe haben, den in Gang gesetzten Reformprozess der Bundeswehr als Akteur mitgestalten und, wie ich hoffe, diesen auch aktiv voran zu treiben. Mit dem Ende der Wehrpflicht und dem Umbau in eine Berufsarmee werden aber vor allem gesellschaftspolitische Fragen zu beantworten sein.
Lassen Sie mich an dieser Stelle einige Gedanken zur geplanten Bundeswehrreform formulieren. Und seien Sie nicht überrascht, wenn ich diesen Prozess zwar kritisch betrachte, aber zugleich an einem Gelingen der Reform ein hohes Interesse habe!
Die Bundeswehr braucht eine innovative und zeitgemäße Ausrichtung und Orientierung, um den Umbau in eine Berufsarmee erfolgreich zu bestehen. Ob mit dieser Bundeswehrreform allerdings die hochgesteckten Ziele erreicht werden können, daran habe ich meine Zweifel. Denn klar ist: Die Bundeswehr soll wesentlich kleiner werden und dabei einsatzfähiger. Während dieses Prozesses soll sie zudem viel Geld einsparen. Und darüber hinaus gibt es die Vorgabe, dass sie in der Gesellschaft präsent bleibt, aber mit weniger Soldaten und viel weniger Standorten.
Diese gesetzten Eckpunkte und meine politische Lebenserfahrung sagen mir, dass diese Aufgabe, vor der die Bundeswehr steht, hoch ambitioniert ist. Bereits jetzt zeigt sich doch deutlich, dass die selbstauferlegte Eile oftmals auf Kosten der Gründlichkeit in der Vorbereitung ging. Außerdem kann man sich bei der Betrachtung dieses Vorhaben nicht des Eindrucks erwehren, dass die einzige strategische Größe in der Planung die Sparvorgabe ist. Einen stringenten sicherheitspolitischen Faden, der sich durch alle Ausarbeitungen zieht, sucht man bislang vergeblich.
Ich will nur auf einige Aspekte näher eingehen:
Die Wehrpflicht stand 55 Jahre lang als Symbol für den vorsorgenden und wehrhaften Staat. Sie war ein Erfolgsmodell der Bundeswehr. Im 21. Jahrhundert ist die allgemeine Dienstpflicht sicherheitspolitisch allerdings nicht mehr zu rechtfertigen. Dazu kam die fehlende Wehrgerechtigkeit und bei einigen die Hoffnung auf einen wesentlichen Beitrag zur Sparvorgabe, die das Aus für die Wehrpflicht besiegelte. Auf unserem Parteitag vor vier Jahren hier in Hamburg hat die SPD diese Entscheidung bereits getroffen. Wir haben sie aber auch mit einem klaren Ersatz verknüpft – und das mit gutem Grund: Wir forderten damals schon einen freiwilligen Wehrdienst. Der freiwillige Dienst bei der Bundeswehr oder bei zivilen Trägern ist ein wichtiger Schritt zur Stärkung unserer zivilen Bürgergesellschaft. Ich denke, wir können die Bedeutung des freiwilligen Engagements in unserer Gesellschaft, aber auch im Leben junger Menschen, die sich dafür bereit erklären, gar nicht hoch genug einschätzen. In der neuen Berufsarmee käme dem freiwilligen Wehrdienst weiterhin eine wichtige Brückenfunktion zwischen Streitkräften und Gesellschaft zugute. Außerdem trägt er zur Rekrutierung aus der Mitte der Gesellschaft bei.
Leider spiegeln die Pläne der Bundesregierung in keiner Weise die Bedeutung der freiwilligen Dienste wider. Mit minimal 5.000 Freiwilligen pro Jahr für die Bundeswehr wird mutlos eine Zahl mit verschwindender Wirkung anvisiert. Wehrpflichtige, die ihren Dienst freiwillig verlängern, retten die Bundeswehr nur über die erste Hürde. Allerdings ist dieser Personalpuffer bald ausgeschöpft. Erste Zahlen bei den zivilen Freiwilligendiensten geben ein unverfälschtes Bild ab: Erst 3.000 statt der erwarteten 35.000 Freiwilligen finden den Weg zu den Wohlfahrtsverbänden.
Wir brauchen uns keine falschen Hoffnungen zu machen. Wenn selbst der politische Wille nicht erkennbar ist, den Freiwilligendienst zum Erfolg zu bringen, dann wird auch die Nachfrage bei jungen Menschen ausbleiben. Aus Gründen der Ehre allein werden nur wenige einen freiwilligen Dienst anstreben. Wir setzen zwar auf selbstbestimmte junge Menschen, die freiwillig und aus innerer Überzeugung Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen, aber ganz ohne gesellschaftliche Anerkennung und materielle Anreize wird ein solches Vorhaben nicht gelingen. An dieser Stelle gilt es schnellstens nachzulegen und nachzusteuern. Ein Gesamtkonzept zur Stärkung aller freiwilligen Dienste, das seinen Namen auch verdient, muss auf den Tisch. Hier steht die Bundesregierung in der Pflicht und in der Verantwortung.
Die Bundeswehr ist eine Armee im Wandel und gleichzeitig eine Armee im Einsatz. Das unterscheidet sie übrigens fundamental von meiner persönlichen Bundeswehrerfahrung vor drei Jahrzehnten. Die Anforderungen und die Belastung an die Soldatinnen und Soldaten wie auch an die zivilen Angestellten sind schon heute sehr hoch. Eine erfolgreiche Umgestaltung der Bundeswehr kann, soviel steht fest, nur zusammen mit den Menschen in den Streitkräften sowie deren Familien gelingen. Es ist ein Gebot der Vernunft, dass eine Reform auch spürbare Verbesserungen für die Angehörigen der Bundeswehr bringen muss. Und die Binsenweisheit, dass zufriedene Mitarbeiter auch die beste Werbung für den Arbeitgeber sind, will ich vor dem Hintergrund des Umbaus in eine Berufsarmee nicht explizit heraus stellen. Sie versteht sich von selbst! Hier verpasst die Politik die Chance, etwas Konkretes und für die Betroffenen Spürbares ins Werk zu setzen. Der Eindruck, der sich den Menschen in der Bundeswehr stattdessen aufdrängt, ist inzwischen besorgniserregend.
Die Soldaten arbeiten seit Beginn der Reformdebatte im Mai 2010 mit der Gewissheit, dass viele Stellen gestrichen werden – mit all den negativen Konsequenzen für die eigene Karriereplanung innerhalb der Armee. Sie wissen, dass zahlreiche Standorte geschlossen werden und dass dies einen langwierigen Umzug mit der Familie bedeuten kann. Sie wissen auch, dass das harte Spardiktat kaum finanzielle Freiräume für die lang geforderte Anpassung der Bezüge eröffnet. Dabei ist inzwischen allen Beteiligten klar, dass Gehaltsanpassungen überfällig sind. Ein Beispiel, das aus meiner Sicht sehr einprägend ist: Ein Unteroffizier oder ein Offizier erhält für einen 24-Stunden-Dienst umgerechnet 2,24 Euro pro Überstunde. Ein Polizist – und das ist eine Berufsgruppe, an die man sich mit dem Umbau in die Berufsarmee zukünftig orientieren muss – ein Polizist erhält je nach Rang zwischen 17 und fast 27 Euro pro Stunde.
Ich kann die Reaktion vieler Soldatinnen und Soldaten, mit denen ich gesprochen habe, absolut nachvollziehen: Sie betrachten die Reform, gelinde gesagt, mit Skepsis und Unverständnis. Eine Reform muss aber zuerst stets als eine Chance für positive Veränderungen begriffen werden. Das müssen wir – das muss die Politik – dann aber auch aktiv angehen und die beteiligten Menschen dabei mitnehmen. Wir müssen deutlich machen, dass eine Karriere bei der Bundeswehr attraktiv ist. Dass es sich lohnt, unserem Land, das ein Teil Europas ist, zu dienen. Entsprechende Maßnahmen und Mittel sind deshalb in der Neuausrichtung der Armee einzuplanen, um die Bundeswehr als Arbeitgeber attraktiv und wettbewerbfähig zu machen. Und das muss auch die Grundlage sein, die Nachwuchsgewinnung mit Blick auf die Zukunft unserer Armee neu aufzustellen.
Unser Anspruch muss zudem sein, qualifizierten Nachwuchs aus der Mitte der Gesellschaft zu erreichen. Von Debatten über eine Prekariatsarmee oder ausländische Söldner in der Bundeswehr halte ich offen gesagt, nichts. Diese Horror-Debatten lenken nur von der eigentlichen Aufgabe ab, die vor uns steht. Und diese lautet: Wir brauchen eine Reform, die nicht zur Last wird, sondern zur Entlastung der Menschen in der Bundeswehr beiträgt. Zum Beispiel in Form eines umfassenden Attraktivitätsprogramms, welches die Ziele einer ausgewogenen Nachwuchsgewinnung berücksichtigt.
Ich weiß, dass dies alles Geld kosten wird. Aber ich weiß auch, dass diese Ausgaben mittel- und langfristig zu finanzieren sind und nicht von heute auf morgen. Genug Zeit also, um Schritt für Schritt den notwendigen Transformationsprozess unserer Bundeswehr aktiv zu gestalten. Hinzu kommt: Wenn wir an dieser Stelle sparen, dann kürzen wir an der Zukunftsfähigkeit unserer Streitkräfte. Die Sparvorgabe des Bundeskabinetts in Höhe von 8,3 Milliarden Euro für den Verteidigungshaushalt ist zugleich das Damoklesschwert der Reform. Wir haben damals kritisiert, dass dies eine Reform nach Haushaltslage sei und dass jegliche sicherheitspolitische Begründung und Unterlegung fehle. Natürlich muss auch die Bundeswehr einen Beitrag zur Konsolidierung des Gesamthaushaltes erbringen, aber die Fähigkeiten der Streitkräfte müssen trotzdem von einem sicherheits- und verteidigungspolitischen Gesamtkonzept getragen sein. Dieses fehlt bis heute!
Der einfache Dreiklang lautet doch: Erstens, welche Bedrohungen existieren, die gegebenenfalls militärisch beantwortet werden müssen. Zweitens, welche Ressourcen stehen zur Verfügung. Und drittens, welche Fähigkeiten muss die Bundeswehr prioritär erfüllen können und welche können auch arbeitsteilig zusammen mit Partnern in der NATO und in der EU umgesetzt werden. Die jetzige Planung verfolgt das Ziel, alle militärischen Fähigkeiten erfüllen zu wollen und gleichzeitig das volle Sparvolumen einzuhalten. Das kann nicht funktionieren. Die Bundeswehr ist bereits jetzt chronisch unterfinanziert. Das Einsparpotential ist zu Beginn des notwendigen Reformprozesses überschaubar, und die Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass der Umbau in eine Berufsarmee einer Anschubfinanzierung – also zunächst mehr Geld – bedarf. Der Sparzwang im Verteidigungshaushalt ist gewiss kein rein deutsches Phänomen. Die Wirtschafts- und Finanzkrise fordert auch von Frankreich, England und weiteren europäischen Ländern Kürzungen bei den Streitkräften. Dieser Blick über die Landesgrenzen hinweg macht aber zugleich klar, wo die Chancen einer umfassenden Reform liegen. Sie liegen in einer klaren Europäisierung unserer Außen- und Sicherheitspolitik. Und dies ist zugleich eine Chance für Europa als Gesamtprojekt. Eine Chance, die Europa vielleicht gerade jetzt dringend benötigt.
Europa ist ins Gerede gekommen. Manche Beobachter sehen unseren Kontinent bereits in einer tiefen Krise. Und seit Jahren hadern die Menschen mit den europäischen Institutionen, die zu weit weg sind und deren Sinn und Funktion sie nicht mehr verstehen. Die Debatten um den Euro und Griechenland verunsichern zudem viele Menschen in Europa und lassen sie am Ziel eines vereinten Europas zweifeln. Dänische Grenzkontrollen sind der sichtbarste Auswuchs eines Trends zu einer verstärkten Renationalisierung. Der Fall Libyen macht den fehlenden politischen Willen und die Schwierigkeiten deutlich, aktuelle Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa – die GASP -, für die sich meine Partei immer stark gemacht hat und deren Grundgedanken wir in Berlin und Brüssel von Beginn an vorangetrieben haben, ist faktisch wieder auf ein Niveau von vor Jahren zurückgefallen. Das ist die Lage!
Aber Politik darf sich nicht mit Zuständen abfinden. Politik muss Zustände verändern oder überwinden. Politik muss mutig und entschlossen neue Wege öffnen und beschreiten. Und damit eines von Beginn an klar ist. Mit meiner Partei wird es keine Renationalisierung geben. Ich hasse zwar dieses Wort, weil es den unerlässlichen Gestaltungsanspruch von Politik untergräbt, aber benutze es hier trotzdem: Europa ist gerade für uns Deutsche „alternativlos“! Die politische Integration der Mitgliedsländer und das Zusammenwachsen der Bevölkerungen mit dem Fernziel der europäischen Föderation ist das einzige erfolgversprechende Zukunftsmodell für Europa.
Wir müssen ehrlich zu uns selbst sein. In 2050 werden weder Deutschland oder Frankreich und schon gar nicht kleinere Länder wie Belgien eine nennenswerte politische und wirtschaftliche Rolle spielen können – im Vergleich zu den USA, China und vielleicht auch Indien oder Brasilien. Nur Europa als Ganzes hat eine Chance im globalen Wettbewerb von Ideen, Werten und Willensbildungsprozessen sowie nachhaltigen Produkten und Dienstleistungen in der ökonomischen Wertschöpfungskette – und zwar genau in der Reihenfolge. Nur Europa als Ganzes kann genügend Gewicht in die globale Waagschale werfen.
Deshalb: Europa muss sich aus seiner Starre und seinen Selbstzweifeln befreien. Seien wir doch einmal stolz auf das, was die europäischen Bürgerinnen und Bürger seit Ende des verheerenden Zweiten Weltkrieges auf diesem Kontinent zustande gebracht haben. Das gilt für Politik, Recht, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Das sind Fortschritte für die gesamte internationale Staatengemeinschaft. Wir leben heute in einem Staatenverbund, aber eben noch nicht in einer wirklichen politischen Union. Wir nutzen einen gemeinsamen Markt, die Reisefreiheit und eine gemeinsame Währung. Wir können überall in Europa arbeiten und studieren. Wir haben die Trennung des Kontinents gemeinsam und friedlich überwunden.
Das ist eine einzigartige historische Leistung von millionen Menschen, von denen ein großer Teil diesen Fortschritt nicht mehr selbst erleben durfte. Es ist also ein kostbares geistiges und zugleich materiell fassbares Erbe, das wir nicht verzehren dürfen, sondern weiter entwickeln müssen!
Deshalb: Lassen Sie uns das immer wieder in Erinnerung rufen. In diesem Europa steckt nach wie vor ein gigantisches Potenzial. Und dieses Potenzial müssen wir aktivieren, indem wir als europäische Politiker mutig und entschlossen voranschreiten. Wir brauchen aber dafür neuen Schwung, einen neuen europäischen Antritt. Und wir brauchen konkrete Ideen und Visionen, die das Potential freisetzen. Einen Impuls, der die Vorteile der Integration gegen die Gefahren der Renationalisierung stellt. Wir brauchen nicht weniger als eine Debatte über ein zukunftsfähiges Europa, das sich endlich löst von den Diskussionen über die Preise für Europa hin zu den Werten von Europa.
Ihre Generation ist gefragt, Europa weiter zu gestalten und auch Europa weiterzudenken. Dabei sollten wir uns nicht vor Visionen fürchten. Aber: Die Debatte darüber tut not! Wir müssen uns wieder einmal darüber vergewissern, warum wir inzwischen fraglos europäischer denken und handeln, aber noch nicht wirklich europäisch! Wir brauchen in einer Zeit, in der sich die Welt immer schneller verändert, ein gemeinsames Bewusstsein, für die Werte, die uns in Europa verbinden – Solidarität miteinander und Verantwortung für unsere gemeinsame Zukunft. Und lassen Sie mich ein großes Wort dafür verwenden, wir brauchen endlich einen europäischen Patriotismus, denn in Europa verbindet uns doch längst sehr viel mehr, als uns trennt.
Vor einigen Jahren hat der ehemalige französische Staatspräsident, Valéry Giscard d’Estaing in einer Rede an der Humboldt-Universität in Berlin die Frage gestellt „Wie kann ein europäischer Patriotismus entstehen?“. Ich denke, ein wirklich ernst gemeinter europäischer Patriotismus muss wachsen, wie auch unsere Gesellschaften in Europa zusammenwachsen muss. Sie alle hier haben schon im europäischen Ausland studiert, gearbeitet und Urlaub gemacht und Sie werden das in Zukunft noch häufiger und selbstverständlicher tun. Europa ist unsere gemeinsame Heimat mit allem was an Chancen und Herausforderungen darin auf uns zukommt, deswegen halte ich diesen handgreiflichen und alltagstauglichen europäischen Patriotismus auch für so wichtig für unsere Zukunft.
Damit wir die Chancen aber auch nutzen können und uns nicht immer nur mit den aktuellen Herausforderungen herumschlagen müssen, brauchen wir konkrete Ideen und Visionen in vielen verschiedenen Bereichen. Wir müssen zeigen, dass Integration der bessere Weg ist und Renationalisierung der falsche. Eine gemeinsame europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik kann genau das leisten. Ist die Zeit reif für einen echten „Neuimpuls“ für die europäische Sicherheit und Verteidigung? Ich denke ja. Wann, wenn nicht jetzt! Damit die Menschen spüren, dass die Politik nicht kapituliert. Statt Gipfel für Gipfel zu inszenieren, statt Vertrag für Vertrag, deren Inhalte kaum noch einer versteht, zu ratifizieren, sollten wir ein konkretes Projekt vorantreiben, das die Menschen endlich wieder mit Europa verbindet: eine gemeinsame europäische Armee!
Dabei hilft uns sogar das Spardiktat in vielen europäischen Partnerländern dabei, nationale Vorbehalte aufzuweichen und eine gemeinsame politische Vision für dieses Vorhaben voranzustellen. Sie alle kennen sicher das Zitat des Namensgebers dieser Universität zu Visionen („Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.”), aber wenn die Kassen knapper werden, brauchen wir politische Ideen, die in die Zukunft weisen, auch wenn auf dem Weg dahin natürlich noch einige Hindernisse zu überwinden sind. Deshalb liegt der Ball aber auch bei uns. Wenn wir unsere Bundeswehrreform planen, dann müssen wir von Anfang an Europa mit denken. Das sehe ich bisher nicht. Und hier sehe ich noch gravierenden Veränderungsbedarf in der politischen Führung unseres Landes.
Sie werden als Offizierinnen und Offiziere die künftigen Sicherheitsmanager in und für Europa. Sie werden mit Kolleginnen und Kollegen befreundeter Streitkräfte in gemeinsamen Stäben, Korps, Divisionen, Brigaden, Bataillonen und Kompanien zusammenarbeiten. Die Ausbildung ist bis dahin einheitlich. Und in ferner Zukunft werden Sie, sofern das europäische Parlament zustimmt, gemeinsam in von der UN mandatierte Einsätze gehen. Das ist noch Zukunftsmusik, aber zugleich das Fernziel, an dem wir uns orientieren sollten.
Natürlich müssen bis dahin einige grundlegende Dinge geklärt werden. Das will ich nicht verschweigen: der Parlamentsvorbehalt des Bundestags, die Einschränkung der Souveränität und damit verbunden eine Änderung der Verfassung, ein gemeinsames Wehrrecht und ein einheitliches Modell der inneren Führung. Das sind alles wichtige Punkte, die zum gegebenen Zeitpunkt diskutiert und entschieden werden müssen.
Heute Abend möchte ich mit ihnen aber vorrangig erörtern, wie wir überhaupt bis zu diesem Punkt kommen können. Nach einem festgefahrenen und impulslosen Prozess der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist das doch die eigentlich spannende Frage! Was kann und soll die Europäische Union sicherheitspolitisch leisten? Was ist – um im Militärjargon zu bleiben – das „level of ambition“? Diese Frage muss gemeinsam und europäisch diskutiert werden. Ich möchte einige Gedanken dazu beitragen.Da ich heute zu Gast an einer Bundeswehr-Hochschule bin, erlauben Sie mir, mich auf die militärischen Aspekte der Sicherheitspolitik zu konzentrieren, auch wenn ich als Sozialdemokrat natürlich von einem umfassenden Sicherheitsverständnis überzeugt bin. Europa ist eine wertgebundene und von gemeinsamer Verantwortung getragene „Friedensmacht“, jedenfalls sollte sie sich als eine solche „Friedensmacht“ Europa verstehen. Daraus lässt sich auch die künftige sicherheitspolitische Rolle Europas ableiten.
Erstens: Europa ist der unmittelbaren Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger und der territorialen Integrität seiner Mitglieder verpflichtet. Der Lissabonner Vertrag von 2009 stellt die Weichen für ein Defensivbündnis für den Fall eines bewaffneten Angriffs auf einen der Mitgliedstaaten – ähnlich dem Artikel 5 der NATO.
Zweitens: Als „Friedensmacht“ schafft Europa Stabilität, die über die eigenen Grenzen hinaus strahlt. Im Umkehrschluss wirken sich Krisen und Konflikte in der Peripherie auf die Stabilität und Sicherheit der Europäischen Union aus. Die europäische Sicherheitspolitik muss also wirksame Antworten auf Risiken in der eigenen Nachbarschaft geben können.
Dass wir dabei auch die USA und die NATO entlasten können, sollte uns ein weiterer Ansporn sein.
Drittens: Unsere gemeinsamen Werte, wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, geben uns eine globale Mitverantwortung. Die Europäische Union setzt sich im Rahmen der Vereinten Nationen und der OSZE für Frieden und Stabilität ein. Die Bereitschaft Europas, sich an UN-Missionen zu beteiligen, sollte verstärkt und entsprechende Fähigkeiten sollten ausgebaut werden. Die Teilnahme europäischer Kontingente an UN-mandatierten Friedenseinsätzen würde dann zur Regel. Rein national bestückte Kontingente wären die absolute Ausnahme.
Die logische außenpolitische Konsequenz wäre übrigens auch, dass bei einer Reform des UN-Sicherheitsrates ein permanenter Sitz für die EU anzustreben wäre. Ich persönlich fände das politisch wünschenswert, auch wenn ich weiß, dass die ständigen Mitglieder im UN-Sicherheitsrat Großbritannien und Frankreich einen solchen Vorschlag derzeit sicher noch ablehnen werden. Unsere Verantwortung in multilateralen Organisationen gilt natürlich auch für die Nordatlantische Allianz. Erlauben Sie mir an dieser Stelle ein Zitat des bis vor wenigen Wochen amtierenden US-Verteidigungsminister Robert Gates, der in einem Gastbeitrag Mitte Juni dieses Jahres im Handelsblatt schrieb: „Es ist nicht zu spät für Europa, seine Verteidigung und seine Sicherheitspolitik wieder in Ordnung zu bringen. Aber dafür müssen seine Politiker Führungsstärke zeigen.“ Den Fingerzeig wird man in London, Paris und Berlin sicher registriert haben. Wenn vor einigen Jahren noch mit erhobenem Zeigefinger gesagt wurde, Europa dürfe nicht zur militärischen Konkurrenz der NATO werden, so vernehmen wir heute aus den USA eine Mischung aus Mahnung und Flehen, endlich mehr zu tun. Ein stärkeres Europa schafft also lang geforderte Fähigkeiten, um die transatlantische Brücke wieder etwas stärker auszubalancieren. Auch das ist ein Teil der Bündnissolidarität, der wir uns als Deutschland verpflichtet fühlen müssen.
Das eine oder andere, was ich gerade zum sicherheitspolitischen Rolle Europas gesagt habe, mag Ihnen nicht besonders originell erscheinen. Ich gebe Ihnen soweit recht, dass sich seit fast zwanzig Jahren – seit dem Maastricht Vertrag 1992 – um die mögliche Ausgestaltung einer europäischen Verteidigung zahlreiche Debatten und Studien drehen. Wir erinnern uns, dass gerade Deutschland auf dem Kölner Gipfel von 1999 wichtige Initiativen vorangetrieben hat. Kurzum: Wir haben auch auf diesem Gebiet also kein Erkenntnisproblem, sondern – wie so oft in der Politik – ein Handlungsproblem!
Die Europäische Union der 27 Mitgliedstaaten tut sich schwer, bei der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gemeinsam vorzugehen. Auf eine eigene strategische Positionierung konnte sie sich bis jetzt nicht festlegen. Dass selbst die Europäische Sicherheitsstrategie von 2003, die ja seither nur einmal sanft überprüft wurde, keine gemeinsame Antwort auf die Frage nach einem strategischen „level of ambition“ gibt, mag aufgrund des Titels des Dokuments bizarr erscheinen. Das würde aber auch den fragilen Konsens der 27 gefährden. Daraus ziehe ich meine Schlüsse, wenn ich nun zum zweiten Punkt komme und mit Ihnen diskutieren möchte, welche politischen Schritte nun getan werden sollten. Denn Sie erinnern sich an das Zitat von Gates, er sagte „es ist nicht zu spät für Europa“ – aber, das wissen Sie ebenso wie ich, richtig früh dran sind wir auch nicht. Also: Wie können wir das aufholen? Ein „Neuimpuls“ der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, bei dem alle 27 Mitgliedsstaaten im Boot säßen, wäre wünschenswert, ist nach aller politischer Lebenserfahrung völlig unrealistisch. Politische Prioritäten, nationale Philosophien und die jeweiligen Fähigkeitsspektren divergieren sehr stark in den sicherheitspolitischen Vorstellungen einzelner Länder. Ich glaube zwar, dass der Sparzwang einige wesentliche Vorbehalte aufweichen wird, aber ich gehe nicht davon aus, dass historisch gewachsene Politiken und Traditionen von heute auf morgen überall über Bord geworfen werden.
Ein wirklicher „Neuimpuls“ müsste von einer Vorreitergruppe ausgehen, die den gemeinsamen politischen Willen mitbringt, das Projekt einer europäischen Integration der Sicherheit und Verteidigung entscheidend sichtbar voranzubringen. Solche Vorreitergruppen gab es in der EU immer wieder, ich nenne hier nur die beiden erfolgreichsten Beispiele – Schengen und natürlich der Euro.
Mein Szenario: Als Vorreitergruppe einer solchen stärkeren Vertiefung der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik böte sich vielleicht die Formel des „Weimarer Dreiecks plus 1“ an. Warum? Deutschland und Frankreich sind noch immer das erfolgreichste und leistungsstärkste Gespann der europäischen Integration. Und gerade aus historischen Gründen denke ich, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit in Fragen der Sicherheit und Verteidigung weiterhin von großer Bedeutung wäre. Mit Polen verbindet uns viel, und dass die polnische Ratspräsidentschaft vor wenigen Tagen erklärt hat, die europäische Außen- und Sicherheitspolitik ins Zentrum ihrer Anstrengungen zu rücken, zeigt unser gemeinsames Verständnis für die Notwendigkeit, in diesem Bereich aktiver zu werden. Eine solche Avantgarde-Gruppe sollte aber die EU als Ganzes repräsentieren und selbstverständlich Anknüpfungspunkte für alle anderen bieten. Und Polen ist nicht nur wichtig, weil wir in der EU der 27 ein mitteleuropäisches Land in einer solchen Führungsgruppe brauchen. Wir brauchen unsere Nachbarn auch, weil sie zeigen, wie sich eine neu gewonnene Souveränität, feste transatlantische Bindung und europäische Integration vereinbaren lassen. Deutschland – das ist klar – wird keine Sonderwege dabei gehen auf dem Gebiet der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Aber Deutschland muss die Chance ergreifen, dem Projekt Europa einen neuen wichtigen Impuls zu geben.
Das „Plus“ lasse ich bewusst offen, denn es ist klar, dass es in dieser Vorreitergruppe auf den politischen Willen ankommt, mehr europäische Integration zu wagen. Unsere britischen Freunde wären militärisch natürlich ideale Partner, sie werden aber erst dann mitmachen, wenn diese Vorreitergruppe erfolgreich ist. Das gilt besonders für die jetzige konservative Regierung. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass ein oder zwei skandinavische Länder daran mitwirken möchten, ebenso wie Spanien, das in der GSVP ja ebenfalls während seiner Ratspräsidentschaft treibend war.
Im Gegensatz zum französisch-britischen Abkommen vom November 2010, das sich auf seine Exklusivität beruft, ist unser ausgesprochenes Ziel die Stärkung der europäischen Integration. Der Lissabon-Vertrag bietet mit der Möglichkeit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit die rechtliche Grundlage. Dass die sogenannte SSZ bisher keine Anwendung findet, ist ein politisches Versäumnis. Ich wünsche mir, dass dieses Instrument aufgegriffen und endlich benutzt wird. Von der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit kann ein starkes politisches Signal ausgehen, das alle Staaten der Europäischen Union einlädt, an der engeren sicherheitspolitischen Kooperation mitzuwirken. Mit der deutsch-französischen Brigade, dem Eurokorps, dem deutsch-niederländischen Korps, dem multilateralen Korps Nordost und weiteren gemeinsamen Einrichtungen gibt es bereits wegweisende Projekte militärischer Zusammenarbeit. Bei deren Gründung dominierten damals politische Gründe vor militärischer Notwendigkeit. Es galt, nationale Vorbehalte, durch die enge Kooperation in militärischen Fragen weiter abzubauen und den europäischen Integrationsgedanken durch symbolträchtige Elemente deutlich zu stärken. Dagegen ist nichts einzuwenden. Im Gegenteil, heute können besonders Sie darauf aufbauen. Der „Neuimpuls“ im Rahmen einer Vorreitergruppe muss aus meiner Sicht allerdings einen deutlichen Schritt nach vorne markieren.
Zwei zentrale Punkte stehen für mich deshalb im Zentrum: Integration und Effizienz.
Können Sie sich vorstellen, zusammen mit polnischen oder französischen Soldaten einen gemeinsamen Verband zu bilden, sich eine Kaserne zu teilen und gemeinsam in den Einsatz verlegt zu werden? Das wäre ein Beispiel integrierter europäischer Sicherheitspolitik. Die Idee der deutsch-französischen Brigade oder des multilateralen Korps Nordost, bei denen sich die Integration meist auf Stäbe und unterstützende Einheiten beschränkt, muss daher weiterentwickelt werden. Mit den AWACS-Verbänden der NATO haben wir das beste Beispiel eines multinationalen integrierten Verbandes zur Hand, an dem aber gut abzulesen ist, welche politischen Hürden auf europäischer Ebene noch zu nehmen sind. Die will ich hier gar nicht verschweigen. In der Vergangenheit stellten multilaterale Kooperationen im militärischen und im Rüstungsbereich einen Wert an sich da. Das ist wörtlich zu nehmen, denn wir haben uns diese Kooperationen etwas kosten lassen.
Sie waren Bekundung eines politischen Willens zur europäischen Integration.
Das ist heute zu wenig – beziehungsweise von der Ausgabenseite her gedacht zu viel. In Anbetracht der starken Einschnitte in europäische Verteidigungsbudgets von acht bis 30 Prozent, je nach Land, muss der Effizienz-Gedanken eine weit stärkere Rolle einnehmen. Und damit ist er zugleich ein starkes ökonomisches Argument für eine Europäisierung unserer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. „Pooling“, „Sharing“ und die Spezialisierung militärischer Fähigkeiten unter Partnern sind kein wirklich neuer, aber ein noch viel zu wenig beschrittener, dabei aber umso erfolgversprechender Weg, den die EU-Partner auf breiter Front, um mal in der Militärsprache zu sprechen, gehen sollten! Es gibt heute bereits circa 100 Kooperationen im Bereich „Pooling & Sharing“. Fast alle im Rahmen der NATO, aber eben kaum in der EU. In der Regel umfassen sie logistische Unterstützung im kleineren Umfang oder führen Ausbildungseinheiten zusammen. Im regionalen Rahmen sehen wir schon etwas mutigere Schritte, wie das Flottenkommando Benelux oder die Nordische Verteidigungskooperation. Deutliche Synergien bei strategischen Fähigkeiten gibt es bislang kaum.
Das von Deutschland, Frankreich, Belgien und den Niederlanden bestückte Europäische Lufttransportkommando ist eine der wenigen Initiativen in diese Richtung. Allerdings haben sich die beteiligten Nationen noch nicht durchgerungen, auch ihre Ressourcen zu integrieren; der Verband wird sogar multilateral geführt. Ein anderes Beispiel sind die EU-Battle-Groups, die weiterentwickelt und noch stärker integriert werden sollten.
Große Einschnitte in den Ausgaben fordern mutige Konsequenzen, um die Leistungsstärke europäischer Streitkräfte zu erhalten. Kurzum: Gerade die Krise der Staatsfinanzen in vielen EU-Mitgliedsländern sollte die Politik als Chance zum „Neuimpuls“ begreifen. Der im belgischen Gent angestoßene Prozess der Ideensammlung für „Pooling“, „Sharing“ und Spezialisierung in der Europäischen Union kann nur ein erster Schritt in diese Richtung sein. Umso schmerzlicher ist die Tatsache, dass dieser Prozess schon wieder erlahmt ist aufgrund fehlender politischer Entschlossenheit und Führung.
Ein weiterer Bereich, in dem deutlich mehr Effizienz nötig ist, ist die europäische Rüstungspolitik. Der europäische Verteidigungsmarkt ist zersplittert, und gerade Rüstungsindustrien werden gern als nationale Güter betrachtet und gehegt und gelegentlich gepäppelt. Die Europäische Verteidigungsagentur zur Abstimmung von Rüstungsprojekten zwischen den Mitgliedsstaaten soll zwar ausgleichend wirken. Aufgrund nationaler Vorbehalte, kommt sie aber in der Praxis ihrem Auftrag nur zum Teil nach. Das Resultat ist, dass die Fragmentierung und die erschwerte Koordination zu erhöhten Kosten in der Anschaffung und fehlender Interoperabilität führen. So leistet sich Europa weiterhin vier verschiedene Kampfpanzer, während die USA nur ein einziges Modell haben. Die Maßgabe muss daher sein, gemeinsam unser Material zu entwickeln, zu beschaffen und zu nutzen. Denken Sie an das Beispiel des gemeinsamen Verbandes, das ich vorhin nannte. Da muss selbstredend allen Soldatinnen und Soldaten das gleiche Material zur Verfügung stehen. Das gebietet die Vernunft, aber auch die Solidarität der Partner untereinander. Was im Großen oft schwierig zu realisieren ist, kann im Kleineren reale Erfolgsaussichten haben. Ich stelle mir vor, dass eine Vorreitergruppe europäischer Staaten gemeinsame Rüstungsprojekte effizienter umsetzen kann.
Gerade Sie in Hamburg wissen, dass dies kein Selbstläufer ist. Der A 400 M von Airbus, der zum Teil in Ihrer Stadt gefertigt wird, ist zwar ein wegweisendes Gemeinschaftsprojekt, doch unterm Strich ist er zu teuer und die Auslieferung verzögert sich von Mal zu Mal. Wichtig ist, dass wir daraus für die Zukunft die nötigen Lehren ziehen und die politische Entschlossenheit aufbringen, diese auch umzusetzen. Politischer Führungswille und die Kraft, andere von der eigenen Idee zu überzeugen und sie an einem gemeinsamen Projekt in und für Europa zu beteiligen, sind für mich die entscheidenden Faktoren, Europa wieder in den Köpfen der Menschen zu verankern.
Ein europäischer Patriotismus gedeiht nur, wenn die Politik Ziele bestimmt und zugleich mutig und entschlossen voranschreitet. Vor allem aber muss die Politik ihre Ziele vorstellen, sie den Menschen erklären und im Zweifel dafür beharrlich streiten. Nur wer selbst von einem Ziel überzeugt ist, was er anzustreben bereit ist, kann auch andere davon überzeugen.
Dieses Ziel muss fassbar, plausibel und vor allem der Verbesserung der Lebensverhältnisse in Europa dienen. Gewiss: Die Notwendigkeit aller Staaten, sicherheitspolitische Synergien zu schaffen, können wichtige Triebfedern dieses Prozesses sein. Aber sie bieten eben keinen Ersatz für den politischen Willen, in einem relevanten Bereich von Politik im 21. Jahrhundert, nämlich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik einen entscheidenden Schritt nach vorn zu gehen.
Ich hoffe natürlich, dass ich Sie davon ein wenig habe überzeugen können, wie notwendig ein solcher Schritt ist. Wie sehr er gerade jetzt unserem Europa aus seiner Starre helfen würde. Denn die Menschen warten darauf, dass die Politik ihnen Europa wieder näher bringt: als ein politisches und soziales Projekt, das jede Anstrengung lohnt, weil es uns, unseren Kindern und Enkeln einen Kontinent in Frieden und Freiheit, aber der Welt zugleich als attraktiver Raum gelebter Bürger- und Menschenrechte vorstellt. Ein soziales Europa mit wirtschaftlicher Kraft und kultureller Vielfalt.
Ich habe kürzlich gehört, dass die Bundeswehr einen neuen Slogan hat, der da lautet: Wir dienen Deutschland. Ich würde mir wünschen, dass dieser Slogan bald abgelöst wird durch folgendes Leitmotto:
Wir dienen Europa.